Ostfront: „Vor unseren Linien liegen zu Tausenden die toten Russen“ - WELT (2024)

Anzeige

Die Nachricht, die Walter Godel im September 1941 nach Hause schickte, klingt einigermaßen ungewöhnlich: „Es geht mir immer glänzend. Gestern erhielt ich die erste Feuertaufe.“ Was Godel als „gar nicht so schlimm“ empfand, ereignete sich im Norden der Ostfront vor Leningrad (heute St. Petersburg). Am Ende des Vormarschs der deutschen Heeresgruppe Nord sollte die Metropole an der Newa für drei Jahre eine eingeschlossene Stadt sein, in der bis zu einer Million Menschen den Tod fand.

Anzeige

Walter Godel stammte aus Weilimdorf unweit von Stuttgart und war noch keine 20 Jahre alt, als er 1941 in die Wehrmacht eingezogen wurde. Eine Reihe von Feldpostbriefen an die Familie hat sich erhalten und wurde jetzt von dem Heidelberger Rechtsanwalt und Historiker Stefan Sauer, einem Großneffen Godels, ausgewertet. Eine Zusammenfassung ist in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Militärgeschichte“ des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr erschienen. Obwohl die Korrespondenz der Soldaten der Zensur unterlag und daher quellenkritisch schwierig zu deuten ist, spiegeln Godels Texte die Veränderung, die das Grauen des Vernichtungskrieges auf die einfachen Soldaten bewirkte.

Lesen Sie auch

Ostfront: „Vor unseren Linien liegen zu Tausenden die toten Russen“ - WELT (1)

Zweiter Weltkrieg

Belagertes Leningrad – Labor der Entmenschlichung

Godel kämpfte nicht in der ersten Welle der Wehrmachtseinheiten, die am 22. Juni 1941 den Überfall auf die Sowjetunion eröffnete. Er gehörte zu den Ersatzleuten, die dem Maschinengewehr-Bataillon 10 („M 10“) zugeteilt wurden. Diese aus Pirmasens stammende, etwa 1000 Mann umfassende Einheit war ein motorisierter Verband, der als eine Art Feuerwehr auf Korps- oder Armee-Ebene als mobile Verstärkung eingesetzt wurde.

Anzeige

Diese Maschinengewehr-Bataillone gliederten sich in drei Kompanien, die jeweils über 16 Maschinengewehre – in der Regel vom Typ MG 34 – verfügten. Ab 1943 erhielt „M 10“ als Hauptbewaffnung Granatwerfer aus sowjetischen Beutebeständen sowie moderne Raupenschlepper als Transportmittel. Als Godel seine „Feuertaufe“ erhielt, unterstand die Truppe der deutschen 18. Armee der Heeresgruppe Nord.

Ostfront: „Vor unseren Linien liegen zu Tausenden die toten Russen“ - WELT (2)

Die anfängliche Begeisterung für den Krieg teilte Godel mit vielen Kameraden. Die zweiwöchige Fahrt an die Front sei sein bisher „schönstes Erlebnis“ gewesen, heraus aus dem Dorf in Schwaben in die große Welt. Dort lernte der Bauernsohn schnell die andere Seite seiner Reise kennen: „Hier ist es schon 2 Tage Schnee und dazu ist es eisig kalt. … Kein Heu kein Stroh u. überhaupt nichts haben die Leute, denn in ihrer Erntezeit mussten sie ja fort.“

Wenn Godel feststellte, dass „75 % Hab u. Gut abgebrannt“ seien, dürfte er erkannt haben, was die Belagerung Leningrads für die Bevölkerung bedeutete. In den folgenden Monaten verloren Hunderttausende bei Temperaturen um bis zu 40 Grad minus ihr Leben. Hitler und seine Generäle wollten die Stadt aushungern. Ob der einfache Landser dies als Kriegsverbrechen erkannt hat? Zu den Kämpfen im Zuge der sowjetischen Winteroffensive 1941/42 notierte er: „Du glaubst nicht wie stur die Russen hier sind. Zu hunderten liegen Sie auf dem Eis u. trotzdem greifen sie täglich an. Sie wollen halt raus. Aber es kommt keiner durch.“

Ostfront: „Vor unseren Linien liegen zu Tausenden die toten Russen“ - WELT (3)

Anzeige

Nachdem die Rote Armee südlich von Leningrad die deutsche Front durchbrochen hatte und einige Tausend Wehrmachtssoldaten in Cholm eingekesselt worden waren, wurde das „M 10“ zum Entsatzangriff in Marsch gesetzt. „Wir rannten sechs Mal an u. kamen nicht durch“, schrieb Godel. „Beim 7. Mal gelang es unter schweren Kämpfen u. leider schweren Verlusten … aber die Russen machten wieder zu u. schlossen auch uns … ein.“

Anders als ein Jahr später in Stalingrad konnte die deutsche Luftwaffe im Kessel von Cholm zumindest ein Mindestmaß an Versorgung sicherstellen. Dennoch fielen zahlreiche Soldaten durch Hunger, Kälte und Krankheiten aus. Auch Godel erlitt Erfrierungen und wurde von Panzern Ende Februar evakuiert. Bis zum Mai sollten die schweren Kämpfe weitergehen.

Lesen Sie auch

Ostfront: „Vor unseren Linien liegen zu Tausenden die toten Russen“ - WELT (4)

Zweiter Weltkrieg

Hitlers Generalprobe für Stalingrad war ein Erfolg

Allein das „M 10“ zählte 383 Tote und Verwundete. Ein Feldwebel notierte: „Nur an den Ruinen und Trümmern sieht man, dass hier einmal eine Stadt gewesen ist. Vor unseren Linien liegen zu Tausenden die toten Russen, und bei wärmerem Wetter, in Tagen und Nächten ist die Luft von furchtbarem Gestank erfüllt.“

Anzeige

Anzeige

Nun war auch Godels „glänzende“ Stimmung verflogen. Seiner Schwester Maria schrieb er mit Hinweis auf deren kleinen Sohn: „Wenn er aber mal anfängt Soldat zu spielen, dann dresche ihm ordentlich den Arsch voll u. lerne ihn lieber tanzen.“ Dass sich der Autor kaum noch um die Zensur scherte, macht eine andere Passage deutlich: „Es geht alles vorbei, nach all diesem Schwindel, sehn wir uns in Weil“, schrieb er, die bekannte Schlagerzeile von Lale Andersen am Rande des Defätismus variierend („Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei / Auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai“).

Stefan Sauer beschließt die Exzerpte des Großonkels mit einem Schreiben, das dieser im November 1943 „in einem kleinen Loch“ an seine Schwester Maria verfasste: „Wir sind hier in einer kritischen Lage u. was noch aus uns wird, müssen wir der Zukunft überlassen. Ich jedenfalls bin noch gesund und hoffe trotz allem auf ein Wiedersehen!“

Die Hoffnung trog. Am 27. Februar 1944, einen Monat, nachdem die Rote Armee den deutschen Belagerungsring um Leningrad endgültig gesprengt hatte, wurde Godel bei den schweren Rückzugskämpfen nordwestlich von Newel von Granatsplittern getroffen. Noch am Abend erlag er seinen Verwundungen. „Seiner Familie“, schreibt Sauer, „blieb ein kleines Bild der Grabstätte, das ihr einige Monate später überlassen wurde.“

Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.

Ostfront: „Vor unseren Linien liegen zu Tausenden die toten Russen“ - WELT (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Kerri Lueilwitz

Last Updated:

Views: 5941

Rating: 4.7 / 5 (47 voted)

Reviews: 86% of readers found this page helpful

Author information

Name: Kerri Lueilwitz

Birthday: 1992-10-31

Address: Suite 878 3699 Chantelle Roads, Colebury, NC 68599

Phone: +6111989609516

Job: Chief Farming Manager

Hobby: Mycology, Stone skipping, Dowsing, Whittling, Taxidermy, Sand art, Roller skating

Introduction: My name is Kerri Lueilwitz, I am a courageous, gentle, quaint, thankful, outstanding, brave, vast person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.